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Ich höre anders – ein Erfahrungsbericht

Wir Mädels stehen nach der Pause vor dem Fachraum zusammen und unterhalten uns. Um uns herum – der normale Pausenlärm. Ich bin dabei, aber ich habe keine Ahnung, wovon ihr gerade redet. Bei diesem Störlärm habe ich wenig Chancen, etwas zu verstehen.

Danach im Unterricht diktiert der Lehrer einen Text. Kein Problem, ich komme gut mit. Am Ende werfe ich einen Blick zu meinem Tischnachbarn. Moment, da steht doch etwas ganz anderes als bei mir …

Das sind alltägliche Situationen für einen Hörgeschädigten. Manchmal glaube ich, ich hätte alles verstanden, aber dann ist es doch nicht so. Da kann es schon passieren, dass ich als Hausaufgabe die falsche Nummer mache.

Ich bin hochtonschwerhörig, d. h. ich höre die hohen Frequenzen sehr schlecht – auch mit Hörgeräten und FM-Anlage[1]:

„Die Vögel zwitschern wirklich wunderschön!“ – „Welche Vögel?“

Für die Sprache bedeutet das, dass ich viele sprachrelevante Laute fast nicht hören kann, beispielsweise sch, f, s, ts. Leider hat man das erst im Alter von vier Jahren festgestellt, in dem die Sprachentwicklung eigentlich schon abgeschlossen ist. Durch jahrelange Logopädie habe ich die Bildung dieser Laute mühsam eingeübt. Verstehen ist schwierig – mein Gehirn hat gelernt, fehlende Laute durch den Zusammenhang zu erschließen. Schwierig wird es bei Fachbegriffen oder in der Fremdsprache. Telefonieren ist eine Herausforderung, vor allem wenn es um mich herum laut ist. Auch die Texte von Liedern verstehe ich schlecht. Filme schaue ich daher gerne mit Untertiteln an. Wenn mich mein Gesprächspartner anschaut, ist es einfacher, denn Gestik, Mimik und Lippenbewegungen helfen beim Verstehen. Aber das verlangt hohe Konzentration. Außerdem ist es so, dass sich nur ungefähr 15 Prozent der Laute unserer Sprache eindeutig am Mundbild erkennen lassen. Die Wörter „Mama“ und „Papa“ haben beispielsweise nahezu identische Mundbildabläufe und sind ohne Kontext kaum zu unterscheiden. Während „Normal-Hörende“ nur auf den Inhalt des Gesprächs achten müssen, muss ich erste einmal das Gehörte verarbeiten und zusätzlich aufwendig Wichtiges von „unnützem Störlärm“ trennen. Vielleicht könnt ihr euch das ein bisschen so vorstellen, wie wenn euch auf dem Volksfest bei Getute und Gedröhne jemand etwas erklären will – und ihr habt erst einmal mit dem Verstehen der Laute zu tun.

So ein Schultag kann daher ganz schön anstrengend werden

–und oft gehe ich mit Kopfschmerzen nach Hause. Und manchmal ist es mir einfach zu viel, nochmal nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Dann nicke ich einfach und lass es dabei bewenden.

Ein weiteres Problem für mich ist, dass bei mir kein „Richtungshören“ funktioniert. Ich weiß also nicht, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Das ist im Straßenverkehr gar nicht so einfach oder auch, wenn mir jemand etwas zuruft.

Technik ermöglicht die Teilnahme am normalen Leben

Zum Glück ermöglicht mir die Technik, am normalen Leben teilzunehmen. Ohne Hörgeräte und FM-Anlage hätte ich keine Chance. Daher heißt es für mich nicht nur, Handy und Hausschlüssel dabeizuhaben, sondern immer auch: Habe ich alle Akkus aufgeladen, habe ich Ersatzbatterien dabei?

An der Stelle möchte ich allen Lehrern einmal Danke sagen, dass sie die FM-Anlage verwenden, die Mikros einsetzen und mir vieles schriftlich geben. Auch das „Lehrerecho“ ist eine große Hilfe für mich. Meine Klassenkameraden unterstützen mich, wo immer sie können. Ihr merkt gleich, wenn ich mal wieder verständnislos schaue, und wiederholt das Gesagte. Danke dafür. Ich fühle mich jeden Tag wohl bei euch an der Schule.

Lilian M. 

[1]Frequenz-Modulation: Diese besteht aus einem Sender (Mikrofon) und einem Empfänger. Vom Mikrofon wird die Sprache über Funk direkt zum Hörgerät übertragen. Dies hat den Vorteil, dass Störgeräusche ausgeblendet werden und die Entfernung des Sprechers zum Hörgeschädigten egal ist.

Ein paar Fakten zum Schluss:

Ungefähr so viele Menschen sind in Deutschland Hörgeschädigt.
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Davon leiden ca. so viele Betroffene an kompletter Gehörlosigkeit.
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